Ein netteres altes Ehepaar als die Yorks kann man sich kaum vorstellen. Zumindest nicht in Illinois. Seit Jahrzehnten leben Irene (Sissy Spacek) und Franklin (J. K. Simmons) in trauter Zweisamkeit in ihrem von großen Bäumen umgebenen Haus, das der ehemalige Holzarbeiter und die Englischlehrerin bereits als Jungverheiratete bezogen haben.
Manchmal schaut Franklin, in einer Rückblende als junger Familienvater, aus dem verschneiten Garten durch das Fenster und freut sich über sein Glück mit Frau und Sohn Michael. Die Liebe ist bis heute geblieben, doch sie hat sich geändert. Denn Michael ist im Erwachsenenalter ums Leben gekommen, und Irene konnte den Tod ihres Sohnes nie überwinden. Wenigstens kommt hin und wieder die Enkeltochter vorbei. Doch Trost und Hoffnung findet Irene ganz woanders – in einem unterirdischen Raum im Schuppen.
Es ist der Blick auf einen fremden Planeten, der Irene in Night Sky (Amazon) magisch anzieht. 856-mal sind sie und Franklin bereits hierhergekommen, starren stundenlang aus dem riesigen Fenster auf die bizarre Landschaft und haben den Keller in ein gemütliches kleines Planetarium verwandelt. Der weniger enthusiastische Franklin hat die Besuche mitgezählt. „We sit here, look out of the window and nothing has happened“, meint er. In Wahrheit ist natürlich schon sehr viel passiert, ohne dass die beiden es wissen; und dass die Tür, welche die irdische Welt von der anderen trennt und die sie bisher nicht zu öffnen wagten, irgendwann aufgehen wird, steht ohnehin außer Frage.
Selbstverständlich ist es von Bedeutung, dass sich in diesem High-Concept-Mystery-Drama das Tor in die Parallelwelt bei einem liebevollen und trauernden alten Paar befindet, das bereit sein könnte, einen sympathisch wirkenden jungen Mann, der aus der anderen Welt stammen könnte, als Ersatzsohn bei sich aufzunehmen. Doch bis es soweit ist, nehmen sich Autor und Showrunner Holden Miller sowie Oscarpreisträger Juan José Campanella (El secreto de sus ojos) als Regisseur der beiden ersten Episoden ausreichend Zeit für scheinbar Nebensächliches, etwa für den Besuch Irenes bei einer langjährigen, dementen Freundin im Pflegeheim. So jemandem könne sie ihr Geheimnis doch anvertrauen, denkt sie. Jemandem, der sie nicht einmal wiedererkenne. „I know who you are“, meint hingegen plötzlich die vermeintliche Freundin. „We were never friends.“
Derartige Szenen sorgen vor allem in den ersten der insgesamt acht Episoden für entsprechendes Unbehagen und für größere Spannung als etwa der neugierige Nachbar der Yorks, von dem man ahnt, dass er irgendwann ihr unterirdisches Geheimnis entdecken wird. Denn mehr als der handelsübliche Suspense zählt in Night Sky das langsame Eintauchen des Unerklärlichen in die reale Lebenswelt – wenngleich ohne Schrecken. Und stärker als das Überraschungsmoment wirken die kleinen Verstörungen: eine in einem Buch gefundene Porträtfotografie eines Mannes, ein von Irene verfasster Abschiedsbrief oder die in einem Einmachglas verwahrte leuchtende Kugel, die Irene vor Franklin versteckt hält und die offensichtlich nicht von dieser Welt stammt.
Ungewöhnlich für eine Serie dieser Art ist es aber auch, dass man selbst zur Halbzeit des Rätsels Lösung – trotz der zahlreichen Indizien – noch keinen Schritt nähergekommen zu sein scheint. Auch nicht mithilfe der plötzlich wiederkehrenden Szenenwechsel nach Südamerika, wo eine alleinerziehende Mutter und ihre Tochter, die abgeschieden wohnend eine kleine Kapelle hüten, definitiv eine entscheidende Rolle spielen werden.
Night Sky funktioniert derart wie eine Enthüllungsstory, bei der ständig irritierende Hinweise gestreut werden, die man am Ende jeder Episode aufgesammelt hat und nicht weiß, wie man sie deuten und zueinander in Verbindung setzen soll. Das erzeugt nach mehreren Stunden ein Gefühl von nervöser Ungeduld, gleichzeitig aber auch von zunehmender Neugierde.
Und auch wenn man sich nicht entscheiden kann, was einem lieber ist – definitiv belohnt wird man in Night Sky dafür, Spacek und Simmons bei der Arbeit zuzusehen, die hier so großartig spielen, als hätten sie tatsächlich die vergangenen Jahrzehnte miteinander verbracht. Und das ist vielleicht sogar spannender als der Blick auf einen fremden Planeten.
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